Von Hüseyin Aydin
Wovon selten die Rede ist: In Israel befanden sich zum Zeitpunkt der Entführung des israelischen Soldaten 9400 Palästinenser in Haft, darunter 313 Kinder. Viele Inhaftierungen waren die Folge illegaler Verschleppungsaktionen. So durchbrachen im vergangenen Jahr israelische Panzer die Mauern eines Gefängnisses im Westjordanland, um Gefangene in die eigene Gewalt zu bringen. In der Nacht zum 24. Juni, zwei Tage vor den als Kriegsgrund angeführten Überfall auf den israelischen Checkpoint und die folgende Entführung des israelischen Soldaten, drang israelisches Militär in den Gaza-Streifen vor und verschleppte zwei junge Palästinenser. Der Vorstoß sollte zeigen, erklärte das Militär damals, dass Israel jedes Hamas-Mitglied an jedem Ort fassen könne.
Davon hören wir in den Medien wenig oder nichts. Genauso wenig wie davon, dass in den vierundzwanzig Stunden vor dem Angriff der Hisbollah, bei dem neun Soldaten starben und zwei weitere verschleppt wurden, insgesamt 36 libanesische Zivilisten getötet wurden. Die israelische Armee konnte und kann derartige Aktionen durchführen, ohne dass es die deutsche, amerikanische oder andere westliche Regierungen je protestiert hätten. Nicht einmal die Verhaftung von acht Ministern der demokratisch gewählten palästinensischen Regierung ruft eine diplomatische Krise hervor.
Die Entführung der Soldaten war scheinbar nichts als ein willkommener Anlass, um längst bereit liegende Kriegspläne umzusetzen. Dies würde auch die scheinbar sinnlosen Provokationen erklären, wie etwa den Armee-Beschuss des Strandes von Gaza am 9. Juni, bei dem eine siebenköpfige Familie ermordet wurde. Im Falle des Gaza-Streifens geht es offenbar um die kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung für die Wahl der Hamas. Deshalb wurde als erstes der Flughafen und das einzige Elektrizitätswerk zerstört. Israels Armee hat das Gebiet hermetisch abgeriegelt, um es auszuhungern und auszudürsten, während ihre Luftwaffe und Panzereinheiten die Wohngebiete terrorisieren.
Im Falle des Libanon geht es um die militärische Verwüstung des südlichen Landesteils, um die Hisbollah zu vernichten. Das wird mittlerweile von der israelischen Regierung auch offiziell als Kriegsziel deklariert. Die Hisbollah agiert wie eine klassische Guerilla, die viel Unterstützung unter den armen Schiiten des Libanon verfügt. Sie kann in einem regulären Frontenkrieg nicht geschlagen, und schon gar nicht zerschlagen werden. Deshalb richtet sich der israelische Krieg gegen die gesamte libanesische Bevölkerung. Ihr wahnwitziges Ziel ist es, der Hisbollah so ihre soziale und logistische Basis zu rauben.
Mit anderen Worten: Die Flucht von über 700.000 Libanesen ist kein Kollateralschaden, keine Begleiterscheinung des Krieges, sondern eines seiner Ziele. Deshalb lässt die israelische Regierung Wohnhäuser bombardieren und die Infrastruktur zerstören. Es geht darum, Panik zu erzeugen und so mit den Zivilisten das Feld gleichzeitig von feindlichen Kombattanten zu räumen. Die israelische Zeitung Jediot Achronot zitierte am 27. Juli einen nicht genannten ranghohen Militär, wonach die Armee die Hisbollah-Dörfer im Süden Libanons auslöschen wolle.
Entsprechend barbarisch sind die eingesetzten Waffen. Der Einsatz von Streubomben ist nachgewiesen und wird von der Armee sogar offen verteidigt. Ein CNN-Bericht vom 24. Juli zeigt einen Säugling und ein Kind in einem libanesischen Krankenhaus, deren schwere Verbrennungen am Körper auf einen Angriff mit Phosphormunition deuten. Meldungen über Angriffe auf flüchtende Zivilfahrzeuge und auf Rot-Kreuz-Konvois häufen sich. Unicef schätzt, dass ein Drittel aller im Krieg getöteten und verletzten Opfer im Libanon Kinder sind.
Die Kriegsführung war vom ersten Tag an auf die Verbreitung maximalen Elends unter den Zivilisten ausgerichtet. Bereits zwei Tage nach den Entführungen durch die Hisbollah berichtete der angesehene britische Journalist Robert Fisk in The Independent vom 14. Juli von einem Luftüberfall auf das Dorf Dweir im südlichen Libanon, wo ein israelisches Flugzeug eine Bombe auf das Haus eines schiitischen Geistlichen warf. Er wurde getötet. Und auch seine Frau. Und acht seiner Kinder. Eines wurde enthauptet. Alles was sie von dem Baby fanden, waren sein Kopf und sein Torso, die von einem wütenden jungen Dorfbewohner vor die Kameras gehalten wurden.
Die Folgen des Krieges sind derart unerträglich, dass man wegschauen möchte. Aber das würde dem Leid eine weitere Ungerechtigkeit hinzufügen. Es geht darum, diesen Krieg zu beenden. Die deutsche Regierung zeichnet sich in diesen Tagen aber vor allem durch Stillschweigen aus. Nicht einmal der offenbar vorsätzliche Angriff der israelischen Armee auf einen Posten der UN-Beobachtungstruppe, bei dem am 25. Juli vier Blauhelm-Soldaten ums Leben kamen, führte zu einer deutlichen Verurteilung durch die Regierungskoalition. Kanzlerin Merkel äußerte ihr tiefes Bedauern - mehr nicht. Sie fiel damit UN-Generalsekretär Kofi Annan in den Rücken, der den Angriff der israelischen Armee aus gutem Grund als offenbar vorsätzlich verurteilte.
Die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand ist das mindeste, was man von der internationalen Staatengemeinschaft hätte erwarten können. Doch diese Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Denn Israel führt den Krieg nicht nur auf eigene Rechnung, sondern mit der expliziten Unterstützung durch die USA.
Die US-Regierung hat die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand sowohl in der UNO, als auch auf der internationalen Nahostkonferenz in Rom blockiert. Schlimmer: Sie hat nach Ausbruch des Krieges der raschen, vorgezogenen Lieferung von einhundert Bomben vom Typ GBU-28 an Israel zugestimmt, damit diese im Libanon zum Einsatz kommen können. Diese 5000-Pfund-Bomben sind in der Lage, auch Bunker in dreißig Meter Tiefe zu durchschlagen.
Im ersten Moment mag die offene Unterstützung des israelischen Feldzuges durch die USA überraschen, denn er zerstört die von den USA im Libanon befürwortete politische Ordnung nach dem vom Westen durchgesetzten Abzug der syrischen Besatzungstruppen. Der gewachsene amerikanische Einfluss auf die libanesische Politik wird in Grund und Boden gebombt, zugunsten der Franzosen.
Die Anheizung des Krieges durch die USA macht Sinn, wenn man den größeren Kontext im Auge behält. Die US-Armee steckt im Irak fest und kommt bei der ursprünglich angepeilten Umgestaltung des Nahen und Mittleren Osten gemäß der eigenen Interessen nicht weiter. Einige Teile der Bush-Regierung scheinen als Reaktion darauf ernsthaft einen Angriff auf den Iran ins Auge zu fassen. Ähnlich der Nixon-Administration, die 1970 angesichts des nicht gewinnbaren Krieges gegen die vietnamesischen Befreiungsfront mit dem Flächenbombardement Kambodschas die Kräfteverhältnisse im Krieg zu ihren Gunsten verändern wollten. Im Fall der Ausweitung des Krieges auf den Iran würde dieser mit Sicherheit versuchen, seinen Einfluss auf die Hisbollah geltend zu machen und über Angriffe auf Israel zu einer arabisch-iranischen Front zu kommen. Die frühzeitige Vernichtung der Hisbollah durch die israelische Armee erleichtert aus dieser Sicht einen US-Angriff auf den Iran.
Die Hisbollah wird vor diesem Hintergrund nicht an Unterstützung verlieren, im Gegenteil. Viele Araber sehen in der Schiiten-Miliz eine authentische Befreiungsorganisation. Tatsächlich bringt der Raketenbeschuss israelischer Städte keine Befreiung, sondern er fordert nur noch mehr zivile Opfer. Am 19. Juli tötete eine Rakete in Nazareth zwei Brüder im Alter von 3 und 7 Jahren. Bei den Kindern handelte es sich um arabische Israelis. Der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, erklärte zynisch, es handelte sich um zwei Märtyrer des Widerstands.
Nein, das Morden israelischer Kinder, ob jüdisch, moslemisch oder christlich, ist kein Akt des Widerstands. Er ist auch keine Antwort auf die Invasion und Bombardierung Libanons. Es bleibt ein barbarischer Akt.
Jeder erfolgreiche Raketentreffer festigt die Bindung der israelischen Bevölkerung an ihre Regierung. Das ist der Hisbollah gleichgültig, weil sie Israel ohnehin als einen einzigen kriegsführenden Block betrachtet. Diese Sichtweise reflektiert die konfessionelle, sektiererische Verfasstheit des Libanon, in dem die Hisbollah als Vertreter der Schiiten an der Macht beteiligt ist, ebenso wie die führenden Parteien der anderen Konfessionen. Dieses System, das mit Unterstützung des Westens nach dem Abzug der Syrer etabliert worden ist, hat die die gegenseitige religiöse Abschottung in der Gesellschaft fortgeschrieben und institutionalisiert. Die Hisbollah kann nicht durch Bombardements besiegt werden. Ihr Einfluss muss vielmehr durch eine wirkliche, konfessionsübergreifende Demokratisierung der libanesischen Gesellschaft von unten, zurückgedrängt werden. Solange die Bomben fallen, ist das aber undenkbar.
Ein friedliches Zusammenleben von Juden, Moslems und Christen ist möglich, auch im Nahen Osten. Ermutigend ist es, dass auf allen Seiten Kräfte in diese Richtung wirken. Diese Kräfte sollte die Linke in Deutschland unterstützen. Die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost erklärte jüngst: Eine Beilegung der Feindseligkeiten, die zur aktuellen Situation geführt haben, sowie eine vertragliche Übereinkunft zu einer dauerhaft tragfähigen Lösung hängen maßgeblich davon ab, dass die Regierung Israels ihre Weigerung aufgibt, mit der gewählten Regierung Palästinas zu verhandeln. Der Hauptdruck der internationalen Gemeinschaft muss daher gegen Israels Politik gerichtet sein, die unter Missachtung einschlägiger Bestimmungen des internationalen Rechts allein auf militärische Gewalt setzt.
Eine friedliche Lösung erfordert drei Schritte: Zunächst einmal muss ein bedingungsloser und sofortiger Waffenstillstand her, muss durch die Einleitung der dringend erforderlichen humanitären Hilfsmaßnahmen das Leid der Bevölkerungen gelindert werden. In einem zweiten Schritt muss über alle Kriegsparteien ein allgemeines Waffenembargo verhängt werden. Schließlich braucht der Nahe Osten Verhandlungen unter Beteiligung aller relevanten politischen Kräfte über eine Gesamtlösung, in dem die Bedürfnisse der Bevölkerung in allen beteiligten Staaten im Zentrum stehen. Eckpunkte müssen die Etablierung eines lebensfähigen, unabhängigen palästinensischen Staates und die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone im ganzen Nahen und Mittleren Osten sein.
Hüseyin Aydin, 28. Juli 2006