Das Folgende ist ein Auszug aus einem langen Artikel von Gal Beckerman über das Verhalten der israelischen Presse zum Konflikt mit den Palestinern. Gal Beckerman ist ehemaliges Mitglied des Redakteurskollegiums der „Columbia Journalism Review“ (CJR), einer Zeitschrift, die sich wie folgt definiert (http://www.cjr.org/contact):
The Columbia Journalism Review is recognized throughout the world as America's premier media monitor—a watchdog of the press in all its forms, from newspapers and magazines to radio, television, and cable to the wire services and the Web. Founded in 1961 under the auspices of Columbia University's Graduate School of Journalism, CJR examines not only day-to-day press performance but also the many forces—political, economic, technological, social, legal, and more—that affect that performance for better or worse. The magazine, which is edited by a dedicated staff of professional journalists and published six times a year, offers a mix of reporting, analysis, criticism, and commentary, always aimed at its basic goal: the continuing improvement of journalism in the service of a free society.
(Der Artikel in der Zeitschrift „der Überblick“ ist seinerseits eine gekürzte deutsche Fassung eines Artikels, der im September/Oktober 2005 in der CJR erschien.)
Die Medien haben wie so viele Israelis die von Premier Ehud Barak nach dem im Jahr 2000 gescheiterten Gipfelgespräch mit Jassir Arafat in Camp David verbreitete Sichtweise von der mangelnden Friedensbereitschaft der Palästinenser freudig angenommen und sind nie mehr davon abgewichen.
- hier habe ich etwas weggelassen -
Zum Verständnis des weitreichenden Einflusses dieser Sichtweise ist es wichtig, den Blick auf den Oktober 2000 zu lenken, den Monat,in dem die zweite Intifada begann und in dem diese Überlieferung entstand. In den ersten zwei Oktoberwochen jenes Jahres hatten sowohl die Palästinenser als auch die Israelis ihr spezifisches Medienereignis, das ihnen die vollständige Verderbtheit der jeweils anderen Seite zu bestätigen schien: zwei kurze Sequenzen von Fernsehbildern, die seitdem tausende Male wieder ausgestrahlt worden sind. Zuerst kam es zur Erschießung von Mohammed al-Dura, einem zwölfjährigen Palästinenserjungen, der mit seinem Vater an einem Kontrollposten im Gaza-Streifen in ein Kreuzfeuer geriet. Das Bild seines kleinen zusammengekauerten und zitternden Körpers, der dann tot in sich zusammensinkt, hat in der gesamten arabischen Welt eine außerordentliche Wirkung entfaltet. Dann am 12. Oktober der Lynchmord an zwei israelischen Soldaten in einer Polizeiwache in Ramallah mit dem Bild eines Mannes, dem das Blut von den Händen troff.
Wenn der Tod des Jungen einen Wendepunkt in der arabischen Welt darstellte, so entfaltete die Tötung des Soldaten eine ähnliche Wirkung unter den Juden. Allerdings schrieb Daniel Dor, Professor für Medienkunde an der Universität Tel Aviv und ehemaliger Zeitungsredakteur, in seinem Buch Intifada Hits the Headlines: »Der Lynchmord war nicht die einzige schreckliche Gewalttat in jenen Tagen. Er war Teil einer komplexen Wirklichkeit – einer gewaltsamen, tragischen, komplizierten und vollständig paradoxen Wirklichkeit. Die Boulevardpresse jedoch hat daraus eine Ereignis von mythischer Bedeutung gemacht, losgelöst von Zeit und Raum, das ein für alle Mal die »mörderische Natur« eines jeden Palästinensers offenbart hat. Und als solches blieb der Lynchmord während der gesamten Intifada in das kollektive Gedächtnis der Israelis eingeschrieben.«
Die Schlagzeilen am nächsten Tag sagten alles: »Die Palästinenser sind Tiere, keine Menschen« hieß es in Yedioth Ahronoth und »Unmenschen« in Maariv.
- hier habe ich etwas weggelassen -
Dor merkt an, dass das, was in jenem Oktober so abrupt stattfand, zu einem Vorbild für die Berichterstattung über den Konflikt in den kommenden fünf Jahren wurde: eine betont emotionale Darstellung der israelischen Seite der Geschichte wie unter einem Vergrößerungsglas und das Ausblenden der Strory der Palästinenser. Palästinensische Todes- und Unfallopfer rückten auf einmal in den Zeitungen immer weiter nach hinten. Am 2. Oktober schrieben alle drei Zeitungen über palästinensische Todesopfer bei einem gewaltsamen Protest. Einen Tag später begann die Berichterstattung über palästinensische Todesfälle abzunehmen, bis sie ganz auf den hinteren Seiten gelandet ist, wo sie auch geblieben ist.
Die Wirkung dieser Art von Berichterstattung auf die Israelis war sofort deutlich. In einer Umfrage, die Maariv am 10. November veröffentlichte, antworteten 38 Prozent der Befragten, dass die Israelis in den ersten fünf Wochen der Intifada mehr gelitten hätten als die Palästinenser, ein Eindruck der sich keineswegs mit den tatsächlichen Zahlen der Toten und Verletzten deckte.
Dor arbeitet noch heute mit Media Watch Groups zusammen, die verfolgen, wie die Erzählweise, die sich in jenem Monat herausgebildet hat, die Berichterstattung der letzten Jahre vorgegeben und festgelegt hat. Und er ist zu der interessanten Schlussfolgerung gekommen: Es sind nicht so sehr die Berichte selber, die von der vorgegebenen Erzählweise beeinflusst wurden. Vielmehr ist es der Rahmen, in den die Berichte eingebettet werden, die Fotos, Schlagzeilen und die Platzierung der Artikel - also die Arbeit der Redakteure - , in der er eine zu starke Vereinfachung des Konflikts ausmacht. Ein Artikel, der beide Seiten des Ereignisses beleuchtet, wird durch eine Schlagzeile unterminiert, die nur einen dieser Aspekte hervorhebt. Eine Geschichte, die ohne emotionale Untertöne auskommt, steht neben einem bedrohlich wirkenden Foto. Jede abweichende Meinungsäußerung wird auf die hinteren Seiten der Zeitung verdrängt. Das trifft Dor zufolge sogar für Haaretz zu und selbst für Levy und Hass. Sie bekommen ihren Platz, um die palästinensische Sichtweise darzustellen, aber ihre Geschichten stehen nie auf Seite eins.
[Über diese beiden Journalisten heißt es an anderer Stelle des Artikels: „Insbesondere wollten sie nichts von Gideon Levy und Amira Hass hören, zwei Haaretz-Reportern, die als einzige israelische Journalisten regelmäßig über die Lebensbedingungen von Palästinensern berichten. Hass ist die einzige israelische Journalistin, die in den besetzten Gebieten wohnt, und hat seit zehn Jahren ihren Wohnsitz in Ramallah und Gaza-Stadt. Als ich israelischen Freunden erzählte, dass ich mich mit den beiden unterhalten wollte, reagierten sie so, als hätte ich gesagt, ich wollte Arafat an seinem Grab in Ramallah die letzte Ehre erweisen. Sogar viele gemäßigte Israelis verunglimpfen die beiden, insbesondere Levy.]
Dieser Trend – das anhaltende In-den-Mittelpunkt-Rücken israelischer Terroropfer, das Übergehen der Palästinenser und die Weigerung, die Konflikte anders als unter emotionalen Gesichtspunkten zu sehen – ist durch die Zunahme der Gewalt nur noch stärker geworden. Vor der Intifada hatten die Israelis zumindest Kontakt mit wirklichen Palästinensern und sei es, dass sie als Tellerwäscher und Bauarbeiter für sie gearbeitet haben. Aber seit ein paar Jahren schon wird den Palästinensern die Einreise verweigert, so dass die Israelis sie nur noch aus den Medien kennen. Und das Gesicht, das sie in den Medien sehen, ist gewöhnlich unter einer schwarzen Kapuze versteckt und gehört einem wütenden jungen Mann, der sein Testament verliest, bevor er sich nach Israel aufmacht, um sich dort in die Luft zu sprengen.
Die Person, die diese Situation vielleicht am meisten bedauert,, die täglich versucht, dieses Bild abzumildern, ist der Haaretz-Reporter Gideon Levy. ... Er veranstaltet schließlich eine Ein-Mann_Show bei dem Versuch, die palästinensische Perspektive der Dinge darzulegen. Und es gibt nicht einen einzigen (außer seiner Kollegin Hass), der es ihm gleichtut. In seinen Augen ist das Wegsehen der israelischen Medien »kriminell«.
»Wenn ein israelischer Soldat durch einen fliegenden Stein einen Kratzer abbekommt, steht die Nachricht auf Seite eins. Wenn fünfzehn Palästinenser von einer Bombe getötet werden, ist das eine kleine Notiz auf Seite sechzehn«, so Levy. »Und was ist die Botschaft? Die Botschaft ist, dass fünfzehn Palästinenser ja nicht so viel wert sind. Sie sind keine Menschen so wie wir. Wissen Sie was: Ihre Leben sind wie fünfzehn tote Hunde«.
Er glaubt, dass ein Prozess der »Entmenschlichung und Dämonisierung« stattgefunden hat. Vielleicht nicht bewusst, aber vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen, zur Steigerung der Auflagen. Aber im Endergebnis, so glaubt er, ist das Image des palästinensischen Volkes reduziert worden auf das einer tobsüchtigen Meute.
»Das ist für alle vorteilhaft,« bemerkt er sarkastisch. »Wir haben eine ganz ungewöhnliche Koalition. Die Leser, die nichts davon lesen wollen. Die Reporter, die nichts darüber schreiben wollen. Die Herausgeber, die es nicht publizieren wollen, weil es sich nicht verkauft. Und die Regierung, die kein Interesse daran hat, dass überhaupt irgend jemand es wahrnimmt.«
Levys Hauptvorwurf, dass die Erfahrungswelt der Palästinenser selten thematisiert wird, ist zweifellos wahr. Aber es ist auch wahr, dass es in den Jahren seit Beginn des Oslo-Prozesses 1993 gewisse Verbesserungen gegeben hat. Selbst die düstersten Tage dieser zweiten Intifada lassen sich nicht mit denen der ersten vergleichen, als jedes Interview mit einem Palästinenser vom Direktor der Rundfunkbehörde genehmigt werden musste und Journalisten gehalten waren, in Bezug auf Paläszinenserführer vom Gebrauch des Wortes »Person« abzusehen, weil das hebräische Wort dafür Wichtigkeit und Respekt vermittelt. In diesen Tagen gehen jede Woche Dutzende Telefonate zwischen israelischen Journalisten und palästinensischen Quellen hin und her. Führer der palästinensischen Autonomiebehörde (Leute wie Hannan Ashrawi, Mohammed Dahlan und Saeb Erekat) sind heutzutage allen möglichen Leuten in Israel bekannt. Sie tauchen in politischen Karikaturen auf, ohne dass jemand eine Erklärung braucht, wer sie sind.
Und wenn sich die israelischen Medien in einem verbessert haben, so ist das ihre Bereitschaft, Aufpasser über die Soldaten des eigenen Landes zu sein. Viele Artikel in den vergangenen Jahren haben von Misshandlungen an Kontrollpunkten und der unmoralischen Behandlung palästinensischer Gefangener berichtet. Im Juni dieses Jahres brachte Maariv, die als die rechtslastigste Tageszeitung betrachtet wird, groß die Geschichte einer Auge-um-Auge-Rachemission des Jahres 2002, bei der israelische Soldaten fünfzehn palästinensische Polizisten getötet hatten, um den Tod von sechs israelischen Soldaten am selben Tag zu rächen.
Was allerdings immer noch fehlt, ist jede Form der Berichterstattung über das, was die Palästinenser denken. Nehmen Sie zum Beispiel die Berichte über die palästinensische Reaktion auf die nahende Räumung des Gaza-Streifens. Jede Vorstellung darüber, wie sie den Abzug wahrnehmen, - eine kritische Frage – stammte in der Hauptsache aus Annahmen, Mutmaßungen und Spekulationen des israelischen Militärs – und nicht von jemand an Ort und Stelle.
- hier habe ich einen kleinen letzten Absatz weggelassen -
Aus der Zeitschrift „der Überblick“ entnommen am 26.8.2006